Im Nebelgebirge

Eine steiler Bergkamm ragt aus einem bewegten Meer aus Nebel empor. Darauf schlängeln sich vierzehn dunkle Schatten einen schmalen Pfad entlang. In der Ferne ist hinter einer Nebelwand tiefschwarz ein riesiger, gezackter Felsen zu erahnen. Die Kamera fährt etwas näher heran und nun erkennt der Zuschauer, dass die Figuren schwer bepackt sind und nur mühsam einen Fuß vor den anderen setzen, sie scheinen schon lange unterwegs zu sein. Im Hintergrund ist das schrille Pfeifen des Windes zu hören, zusammen mit dem feinen Rauschen des Regens bildet es einen gespenstischen Soundtrack.

Was ebensogut der Trailer einer Literaturverfilmung sein könnte, bei der ein kleines goldenes Schmuckstück für viel Wirbel sorgt, soll an dieser Stelle stellvertretend für mein letztes Wochenende stehen. Wieder ging es in Richtung Berge und wieder war ein Zelt im Gepäck, nur diesmal sollte es so richtig nach Draussen gehen. So sehr ich Taipeh liebe, so gerne entkomme ich der Geschäftigkeit der Stadt bei Gelegenheit. Das ist zum Glück in Taiwan nicht schwer. Rund siebzig Prozent der Landfläche sind von Hügeln oder Bergen bedeckt, von denen nur ein kleiner Teil zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt wird. Die meisten der ca. 23 Millionen Einwohner der Insel leben auf der dichtbesiedelten Ebene, die sich die Westküste hinunterzieht. Da bleibt viel wildes Bergland, das es sich zu entdecken lohnt. Und es sind richtige Berge: Taiwan, das in etwas so groß wie Baden-Württemberg ist, beherbergt um die 260 Gipfel über 3.000 Meter, von denen viele in besonders geschützten Nationalparks liegen. Yushan, der Jadeberg, ist mit 3.952 Metern der höchste Berg des Landes (die deutsche Zugspitze ist 2.962 Meter hoch). Zwei dieser Gipfel habe ich gemeinsam mit 13 anderen Wanderlustigen letztes Wochenende erkundet. Zum Auftakt meiner persönlichen Bergsaison habe ich mir einen der zugänglichsten Berge ausgesucht: Hehuanshan, in etwa „Berg der Freude“. Dessen Gipfel liegen unweit der höchstgelegenen Straße Taiwans, die als einzige Ost-West Verbindung das zentrale Bergmassiv durchquert. Die Straße ist nicht nur bei Wanderern sehr beliebt, sondern im Winter auch bei denjenigen Taiwanern, die gerne einmal in ihrem Leben Schnee sehen möchten, ohne Bergsteigen oder mit dem Flugzeug ins Ausland fliegen zu müssen.

Samstagmorgen um fünf ging es von Taipeh aus per Bus erst Richtung Süden und dann nach Osten in die Berge, gut sieben Stunden Fahrt. Dabei waren wir nicht alleine unterwegs, da ein langes Wochenende bevorstand: Montag war „Doppel-Zehn-Tag“, der Nationalfeiertag Taiwans, bzw. der Republik China, nicht zu verwechseln mit der Volksrepublik. Dieses Jahr bot der Feiertag vor allem eine gute Reisegelegenheit. Nach langer Fahrt angekommen, bestiegen wir zum Aufwärmen erst einmal ohne Gepäck den kleinen Gipfel Hehuanjian, der 3.217 Meter hoch ist und vielleicht in einer halben Stunde von der Straße aus zu besteigen ist. Anschließend packten wir unsere Zelte, Schlafsäcke, unsere vier Liter Wasser und was man sonst noch so alles für einen Bergausflug braucht, zogen unsere Regenhosen an, nahmen unsere Wanderstöcke in die Hände und dann ging es in die Höhe. Leider zog gerade mal wieder ein tropischer Sturm, mit dem poetischen Namen Aere, an Taiwan vorbei, der uns dichte Regenwolken schenkte. Aber Regenhose, wetterfeste Jacke und jede Menge Plastiktüten sind ja eh Bestandteil jeder guten Wanderausrüstung. Auf steilen Pfaden, über Stock und Stein und vor allem durch den Matsch, stiegen wir also zum Nordgipfel auf, mit 3.422 Metern der höchste Gipfel des Hehuanshan.

Dabei waren wir trotz des nicht besonders wanderfreundlichen Wetters keineswegs die einzigen. Zahlreiche große und kleine Wandergruppen in bunter Regenkleidung stiegen mal mit, mal ohne Musikbegleitung zum Gipfel auf. Die meisten Taiwaner können mit Wandern oder Zelten nicht viel anfangen (siehe meinen letzten Blogbeitrag); die Minderheit, die gerne wandert, tut dies dafür umso entschlossener. Anfang der 1970er haben einige erfahrene taiwanische Wanderer eine Liste der 100 besonders lohnenswerten Gipfel über 3.000 Meter gekürt, ausgewählt nach Kriterien wie Einzigartigkeit und Schönheit, Höhe und Prominenz, aber auch Schwierigkeit und Gefahr. Auch wenn diese Auswahl immer mal wieder kritisch diskutiert wird, gilt sie allen taiwanischen Bergenthusiasten, die was auf sich halten, seitdem als Kompass. Nicht wenige haben schon alle 100 Gipfel bestiegen (und wer es besonders schnell schafft, landet auch gerne mal in der Zeitung), andere wenigstens die besonders beliebten Gipfel auf der Liste, wie diejenigen, die lyrisch unter den „fünf hohen, drei spitzen und ein wundersamer“ zusammengefasst werden.

Schneidender Wind und stärker werdender Regen ließen uns nicht länger als für ein oder zwei Fotos nötig auf dem Nordgipfel verweilen. Schnell stiegen wir auf der anderen Seite ab und weiter Richtung Westgipfel. Ab hier waren deutlich weniger Menschen auf dem Weg unterwegs. Die ein oder andere farbenfrohe Wandergruppe materialisierte sich dennoch aus dem immer dichter werdenden Nebel. Der Weg war zwischenzeitlich sehr schmal und so steil, dass Seile angebracht worden waren. Er führte auf und ab und ab und auf und an Bergkanten entlang, die in gutem Wetter malerisch gewesen wären. Im Regen aber rutschten wir durch tiefen Schlamm und über glitschige Felsen, was Zeit und Kraft kostete – und mich eine Schneidezahnspitze, als ich mich einmal nicht mehr rechtzeitig fangen konnte. Und doch war es ein wunderschöner Weg, der uns über offene Wiesen, schmale Bergrücken und steile Felsstufen, durch Bambus- und Nadelwälder führte. Der Nebel ließ die Welt jenseits des Bergs verschwinden, wir hatten eine magische Welt über den Wolken (fast) für uns alleine.

Abends schlugen wir ein bis zwei Kilomenter vor dem Westgipfel auf einem geschützten Hang unsere Zelte auf, zogen unsere trotz Regenschutz durchweichte Kleidung aus und krochen dankbar in unsere warmen Schlafsäcke. Während draussen das Thermometer auf unter 10 Grad fiel, träumten wir im Warmen vom sonnenbeschienenen Westgipfel. Als es am nächsten Morgen jedoch wieder zu regnen begann, beschlossen wir schweren Herzens, vernünftig zu sein und uns den Westgipfel für ein anderes Mal aufzuheben. Denn auch ohne Westgipfel hatten wir noch mehrere Stunden des Wanderns, Kletterns und Rutschens vor uns, weil der Weg zurück wieder über den Nordgipfel führte. Am frühen Nachmittag kamen wir mit schmerzenden Beinen, durchweicht und schlammverkrustet aber – wie das beim Wandern paradoxerweise häufig so ist – glücklich und zufrieden an der Straße an. Trotz aller gegenteiliger Anstrengung von Sturm Aere war es ein perfektes Wochenende, ein Kurzurlaub für Kopf und Körper.

Anders als in einem Filmepos zu erwarten, wartete am Ende der Reise durch das Nebelgebirge weder ein Drache noch ein üppiger Schatz, sondern ein kleiner weisser Bus auf die 14 Schattengestalten. Dieser brachte sie sicher zurück in die große Stadt, wo sich ihre Wege trennten. So ganz konnten die Abenteurer das Gebirge allerdings nicht hinter sich lassen: Während der anschließenden Heimreise durch die Tiefen der Stadt mit der Untergrundbahn hielten die sonntagsfeinen Stadtbewohner zur Sicherheit gehörigen Abstand.

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